Dies ist der Einstieg in eine Artikelserie, die die These: „Prozess schlägt Produkt“ aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten wird. Versicherer haben jahrzehntelange Erfahrung in der Prozessoptimierung. Organisatorisch ist sie häufig in der sogenannten Betriebsorganisation verortet.
In den letzten Jahren wächst das Prozessbewusstein allerdings auch in den Vertriebskanälen der Versicherer, insbesondere bei Maklern und Mehrfachagenten. Diese haben die Wahl, wo sie ihr Geschäft eindecken. Durch Regulatorik hat der Vertrieb ohnehin gesteigerte Anforderungen an Beratung, Profilierung und Dokumentation zu erfüllen. Wenn dann gute Prozesse bei Versicherern vertriebsaktive Zeit schaffen oder schlechte Prozesse vertriebsaktive Zeit stehlen, wirkt sich dies unmittelbar umsatzwirksam in der Vergütung des Vertriebes aus.Hinzu kommt beim Makler die Rolle als Treuhänder des Kunden, so dass hier, neben zu begründender Produktauswahl, auch die Begründung der Versichererauswahl eine Rolle spielt. Dabei sind eben nicht nur Ratings und Unternehmenskennzahlen, sondern auch Prozesse relevant. Deshalb sehen wir uns im ersten Teil der Reihe „Prozess schlägt Produkt“ die Kundenperspektive an.
- Nach welchen Kriterien entscheiden Kundinnen und Kunden?
In Zeiten zunehmender Transparenz und steigender Vergleichbarkeit von Versicherungsprodukten stellt sich die Frage:
„Wenn sich qualitative und quantitative Produktmerkmale immer weiter annähern, wonach richte ich als Endkunde meine Entscheidung aus?“
Beispielhaft sei hier der Lebensversicherungsmarkt genannt, im Speziellen die Selbständige Berufsunfähigkeitsversicherung und Rentenversicherungen. Treiber dieser Entwicklung sind Unternehmen, die Produktsiegel vergeben und häufig auch Vergleichsrechner anbieten, die sowohl die Bedingungsqualität als auch die absolute Rentenhöhe aufzeigen können.
Die Antworten können hierbei natürlich sehr kundenindividuell ausfallen. Wenn man sich jedoch einmal mit den folgenden 3 Themenfeldern
- Kundenerlebnis
- Kundennutzen
- Kundenpriorisierung
auseinandersetzt, ergeben sich Antworten auf diese Frage.
Kundenerlebnis
Im Hinblick auf das Kundenerlebnis ließe sich zunächst einmal grundsätzlich übergeordnet fragen: „Wer passt sich denn wem an? Passt sich der Kunde dem Versicherer oder der Versicherer sich dem Kunden an?“ Je nach Antwort besteht bereits hier das Risiko, potenzielle Neukunden aber auch Bestandskunden zu verlieren, weil die Rahmenbedingungen des Versicherers nicht zur Lebenswirklichkeit oder Erwartungshaltung der Kunden passen.
Das Kundenerlebnis kann aber natürlich auch durch die Schnelligkeit von Bearbeitungszeiten beeinflusst werden. Dies gilt für Antrags-, Vertrags- und Leistungsbearbeitungen. Hinter den Kulissen ist dafür ein der Kundenerwartung entsprechender oder diese übersteigender Mix aus Hell- und Dunkelverarbeitung sowie Schadensteuerung notwendig.
Ein weiterer Teilaspekt ist die Nachbearbeitungshäufigkeit. Muss der Kunde sich mit seinem Anliegen nur einmal initial oder ungewollt wiederholt auseinandersetzen? Bei hoher Nachbearbeitungshäufigkeit sinkt aus Kundenperspektive die Werthaltigkeit der Dienstleistung, da dieser gedanklich eigene, wiederholte Aufwände gegenüberstehen und ihn von aus seiner Sicht wichtigeren Dingen abhalten. Insbesondere bei Kleinstschäden kann je nach Nachbearbeitungshäufigkeit der eigene gedankliche oder faktische Stundenlohn des Kunden die vertragliche Versicherungsleistung übersteigen. Dieser Moment sollte in der Kundenerfahrung vermieden werden.
Auch die Anzahl der Routingpunkte sollte wohl überlegt sein. D. h. wie oft wird der Kunde bei einem Anruf unternehmensintern weiterverbunden und wie oft muss er sein Anliegen erneut mitteilen? Alternativ: Wie viele Menüpunkte sind in der Telefonanlage notwendig, um an der richtigen Stelle zu landen?
Je nach Kundengeneration gibt es Präferenzen hinsichtlich der Interaktion mit dem Versicherer (beispielsweise der althergebrachte Versicherungsordner in Abgrenzung zu elektronischen Kundenportalen) oder bezüglich der Legitimationserfordernisse (etwa die unterschriebene Willenserklärung in Abgrenzung zum elektronischen Fingerscan oder Gesichtsscan auf dem Smartphone).
Als letzter Punkt zur Kundenerfahrung sei noch die Erreichbarkeit genannt. Das kann sowohl Servicezeiten aber auch bereitgestellte Kommunikationskanäle umfassen und natürlich, ob ich den freundlichen und kompetenten Mitarbeiter nur über eine Sammelnummer/Hotline oder seine direkte Durchwahl erreiche.
Kundennutzen
Unter gleichen Rahmenbedingungen spielt natürlich der erlebte Kundennutzen eine wichtige Rolle. Setzt man die sprichwörtliche Kundenbrille auf, dann ließe sich fragen: „Spare ich dadurch Zeit, Geld oder Nerven? Entlastet mich diese Vorgehensweise, z. B. durch das Vermeiden lästigen Papierkrams? Wird für mich dadurch transparenter, in welchem Status sich mein Vorgang oder Anliegen befindet?“
Hierbei werden erfahrungsgemäß gern Erwartungshaltungen aus dem Versandhandel in die Versicherungswelt übertragen. Beim Paketdienst kann der Kunde ja schließlich auch sehr transparent nachvollziehen, wo sich sein Paket aktuell befindet.
Kundenpriorisierung
Endkunden haben Anspruchshaltungen. Diese liegen zum Beispiel in ihrem Wertegerüst begründet. Versicherer können in ihren Prozessen zum Beispiel Kundentreue und ein erreichtes Cross-Selling-Niveau belohnen und hohe Schadenquoten sanktionieren.
Versicherer können also entweder durch ihre Mitarbeiter oder regelbasiert ihren Kunden eine bevorzugte oder kulantere Behandlung zuteilwerden lassen. Dabei kann im Hintergrund auf KPIs wie Cross-Selling-Quoten oder Kennziffern zur Kundenprofitabilität zurückgegriffen werden.
Leistungsbearbeiter kennen Kunden-Formulierungen wie diese: „Ich bin doch schon so lange Kunde bei Ihnen.“ Dahinter steckt die unausgesprochene Erwartungshaltung, dass Kundentreue auch belohnt und in der jeweiligen Bearbeitung berücksichtigt werden sollte.
Wenn Produktsparten beziehungsweise einzelne Produktarten oder Produkte mit geringer Komplexität und ohne Gesundheitsfragen beispielsweise grundsätzlich eine Dunkelverarbeitung ermöglichen und zwingend benötigte Angaben in vorherigen plausibilisierten Prozessschritten und Umsystemen bereits erfasst wurden, sollten zu Gunsten der Kundenzufriedenheit die Chancen der Dunkelverarbeitung genutzt werden. Der profitable und unprofitable Bestandskunde erhält ein positives Kundenerlebnis. Der unprofitable Kunde wird so schnell bearbeitet, dass er keine weiteren Kosten und Aufwände verursacht. Eine klassische Win-Win-Situation.
Fazit:
Mit den heutigen technischen Möglichkeiten können Versicherer losgelöst von Produktratings und Produktscorings bzw. bei identischen Ablaufleistungen positive Endkundenerlebnisse begünstigen. Hierbei existieren Wechselwirkungen zwischen der Produktkomplexität und der Prozesskomplexität.
Keep it short and simple
So hat eine geringe Produktkomplexität auch eine geringe Prozesskomplexität zur Folge. Dadurch können höhere Durchlaufgeschwindigkeiten erzielt werden und Opportunitätskosten für die Abbildung vielfältiger Produktoptionen vermieden werden.
Intelligence by Design
Durch eine kluge Produktarchitektur von Versicherungskernsystemen bleibt aber auch eine hohe Produktkomplexität, wie sie beispielsweise in der Biometrie bereits als Marktstandard etabliert ist, weiterhin effizient beherrschbar. Der Schlüssel hierzu liegt in einem modularen Produktdesign. Der Nutzen für Versicherer liegt in der hohen Wiederverwendbarkeit atomarer Bestandteile und in der damit einhergehenden schnellen Time-to-Market. Neue Produkte und die zugehörigen Geschäftsvorfälle können quasi durch Modellierung „zusammengeklickt“ werden, anstatt aufwendig in Code programmiert zu werden. Moderne Bestands- und Leistungssysteme bringen hier bereits Musterprodukte mit. Das reduziert bereits erheblich die Initialaufwände und ermöglicht auch Versicherern ein positives Kundenerlebnis zu schaffen.
Sie möchten mehr erfahren? Dann wenden Sie sich gerne an unseren Experten Stephan Müns.