Agilität: Der Weg ist steiniger als vermutet


„Wir müssen viel agiler werden“: In Podcasts, Interviews oder Blogbeiträgen trifft das Spitzenpersonal von Versicherungsunternehmen diese Aussage. Das Thema bewegt Firmen seit einigen Jahren. Auch wir haben dieses Thema bereits aufgegriffen. Müsste da nicht jeder, der agil werden wollte, dies inzwischen sein?

Der Reiz der Ökosysteme

Agile Methoden stammen aus der Software-Entwicklung und wurden dort erstmals erprobt. Als Grundlage dienen die Prinzipien des „agilen Manifests“. In der Wortbedeutung meint „agil“, „wendig und regsam“ zu sein. Durch Faktoren wie Globalisierung, Digitalisierung, Vernetzung wird unsere Welt immer schneller. Schneller bedeutet, dass die Zeitabstände zwischen Veränderungen oder gar Neuerungen immer kürzer werden. Diesen permanenten raschen Wandel nennt man VUCA (volatil, uncertain, complex, ambigious).

Als einen wesentlichen Vorteil beim Einsatz von agiler Projektsteuerung identifizierten IT-Verantwortliche gerne einen Geschwindigkeitsgewinn. Dieser mögliche Vorteil steht häufig für das Ganze. Und genau darin liegt ein Missverständnis. Denn im Manifest für agile Softwareentwicklung heißt es:

Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:

  • Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
  • Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung
  • Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans

In einer traditionsreichen Branche mit vielen etablierten Playern – wie dem Versicherungswesen – wird für Entwicklung und Einführung neuer Produkte, Tarife oder neuer Geschäftsmodelle viel Zeit benötigt. Deshalb wird in Agilität die Antwort auf viele Probleme gesehen. Dass Agilität aber auch auf vielen anderen Ebene eines Unternehmens Veränderungen bedingt, beispielsweise in der cross-funktionalen Zusammenarbeit und der Abkehr von tradierten Hierarchien und Führungsprinzipien, wird bisweilen außer Acht gelassen – oder unterschätzt.

Agilität ist kein Selbstzweck

Enttäuschungen sind dann letztlich das Ergebnis von übersteigerten Erwartungen und einer falschen Vorgehensweise. Wer bisher zu viel Zeit dazu gebraucht hat, neue Produktideen umzusetzen, übernimmt nicht über Nacht die Innovationsführerschaft in der eigenen Sparte, weil agile Methoden in einigen Abteilungen eingeführt, vielleicht sogar verordnet wurden. Und wo die Entwicklung neuer (Software-)Lösungen oder Produkte unter der Last von veralteter IT, Bürokratie, Hierarchie, Abteilungsdenke und Projektbeschreibungen zu lange dauerte, wird auch nicht plötzlich alles viel schneller.

Agile Methoden sind weder Selbstzweck noch ein Allheilmittel. Sie bieten das Potenzial, „wendiger“ zu sein, sich also schneller auf andere Rahmenbedingungen und geänderte Bedürfnisse einzustellen. Aber um sich als tradiertes Unternehmen der viel gepriesenen Agilität von Insurtechs anzunähern, bedarf es schon etwas mehr.

Woran es bei Agilität häufig scheitert

Aber was hemmt in vielen Versicherungen die Agilität? Dies beginnt bereits bei der Betrachtung des Umfelds. So können die Teams aus der IT-Abteilung bereits nach agilen Ansätzen arbeiten, sind dabei jedoch auf die Zusammenarbeit mit internen Stakeholdern, externen Dienstleistern oder Kunden angewiesen, die allerdings nach klassischer Methodik arbeiten. Hier treffen agile und traditionelle Methoden aufeinander. Wie eine Studie der Hochschule Koblenz aus dem Jahr 2020 ergab, ist das nicht ungewöhnlich. So gaben 74 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sie agile Methoden wegen solcher Rahmenbedingungen nicht konsequent durchhalten können.

Die lesenswerte Studie brachte aber noch weitere wichtige Erkenntnisse, die den Weg zu einer erfolgreichen Nutzung agiler Methoden weisen. Zum einen deuten die Antworten darauf hin, dass verteilte Teams das agile Arbeiten erschweren und der Erfolg auch von der Größe der Teams selbst abhängt. Bei einer Größe von über zehn Personen wachsen die Schwierigkeiten, vom Nutzen agiler Methoden im gewünschten Umfang zu profitieren.

Um agile Methoden erfolgreich einzuführen, kommt es aber nicht nur auf solche Rahmenbedingungen an. Die Grundlage bildet die Entwicklung eines dazu passenden Mindsets bei allen internen Stakeholdern. Zudem müssen auch interne Anreizsysteme mit den neuen Vorgehensmodellen korrespondieren. Fehlt beides, ist es nicht überraschend, wenn es bei der Einführung und Umsetzung hapert.

Da hilft auch kein Blick auf agile Insurtechs. Die haben als Start-ups mit überwiegend jungen Mitarbeitenden, die über eine dazu passende intrinsische Motivation verfügen, weniger Probleme mit agilen Arbeitstechniken.

Woran Agilität (nicht nur) in Versicherungen gleichfalls scheitern könnte, ist die Annahme, dass Agilität verordnet werden kann. Und so wird gut strukturierten und zur Routine gewordenen Abläufen die neue Methode übergestülpt, kann dann aber nicht die Erwartungen erfüllen.

Vom Meilenstein zum Sprint

Eine Vielzahl positiver Erfahrungsberichte lässt den Schluss zu, dass agile Methoden dann das bessere Vorgehen darstellen, wenn es sich um ein Projekt mit großer Unsicherheit handelt. Beispielsweise ist noch nicht klar, wie die Idee konkret umgesetzt werden kann, oder es bestehen inhaltliche Unklarheiten. In solchen Fällen erlauben agile Methoden tatsächlich eine größere Wendigkeit. Denn klassisch konzipierte Projekte basieren in der Regel auf einem umfangreichen, präzise geplanten Projektstrukturplan mit Meilensteinen, Lieferterminen und Deadlines. Es bestehen zahlreiche logische und inhaltliche Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Elementen (Arbeitspaketen). Zudem ist das Produkt bzw. das Projekt erst dann funktionsfähig, wenn alle Komponenten bzw. Teilprojekte abgeschlossen und abgenommen sind. Im Gegensatz dazu wird im agilen Umfeld iterativ und in kurzen, zeitlich begrenzten Zyklen (Sprints) vorgegangen. Ziel ist es, am Ende jeden Sprints ein voll funktionsfähiges Element (Inkrement) zu erstellen, das in den folgenden Sprints ergänzt werden kann.

Transparenz und Kommunikation als Erfolgsfaktoren

Schlüssel zum Erfolg von agiler Softwareentwicklung sind Transparenz und Kommunikation. Im linearen Vorgehen der klassischen Wasserfallmethodik erlaubt die Definition von Meilensteinen die Verfolgung des Projektfortschritts. In agilen Umgebungen werden solche Meilensteine einmal übersprungen, verändert oder ausgelassen, weil sich im Entwicklungsprozess neue Probleme oder Optionen ergeben haben. Das führt zu Missverständnissen mit dem Management oder dem nicht agilen Kunden. Deswegen ist es wichtig, bestehende Reportings an die neuen Methoden zu adaptieren.

Und schließlich ist Agilität in einer Versicherung auch eine Aufgabe der Kommunikation. So müssen alle Beteiligten verstehen, wozu dieser Weg beschritten wird. Es muss das Vertrauen geschaffen werden, dass es sinnvoll sein kann, eine Software nicht erst dann herauszubringen, wenn sie ein möglichst umfangreiches Feature-Set besitzt, sondern dies iterativ zu tun.

Die erfolgreiche Umsetzung von Agilität (in Versicherungen) ist also auch eine Kommunikations- und Führungsaufgabe, wenn nicht sogar ein Change-Projekt, das weit über die IT-Abteilung hinaus geht! Es bleibt spannend zu beobachten, wie das gelingt und wohin die Reise führt.

Mehr zu Digitalisierung, Agilität und Kulturwandel erfahren Sie hier. Wenn Sie mit uns über innovative Versicherungs-IT ins Gespräch kommen möchten, wenden Sie sich gerne an unseren Experten Karsten Schmitt, Head of Business Development.

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